Von Bergkarabach nach Jerewan: Women’s Center. Shushi berichtet
Der Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach im September 2023 zwang das Women’s Center. Shushi ins Exil. Doch auch in ihrer neuen Heimat Jerewan kümmern sich die Aktivist*innen weiterhin um Frauen aus Bergkarabach.
Am 19. September 2023 besetzte Aserbaidschan Bergkarabach. Mit einer groß angelegten Militäroffensive verleibte sich Aserbaidschan die gesamte Region ein. Bis Ende September waren ca. 100.000 der armenischen Bewohner*innen Bergkarabachs nach Armenien geflohen. Mit ihnen flohen auch Organisationen, wie zum Beispiel das Women’s Center. Shushi. So wie Familien ihren gesamten Hausstand zurücklassen mussten, so mussten auch die Aktivist*innen ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen. Ohne Computer, Drucker und andere Büroausstattung und Arbeitsmaterialien bauen die Aktivist*innen nun in der neuen Heimat ihre Organisation wieder auf. Und unterstützen gleichzeitig weiterhin Frauen aus Bergkarabach.
Ein kurzer Rückblick
Doch blicken wir kurz zurück. Wie hat das Women’s Center. Shushi überhaupt angefangen? An welchen Themen haben die Aktivist*innen in Bergkarabach gearbeitet? Das Women’s Center. Shushi wurde 2008 als Ableger des Women’s Resource Center Armenia in der Stadt Shushi gegründet. Die Aktivist*innen arbeiteten zu einem breiten Spektrum an Themen: geschlechtsspezifische Gewalt, die Gleichstellung der Geschlechter, häusliche Gewalt, Friedenskonsolidierung, reproduktive Gesundheit und Rechte. Da Bergkarabach schon lange eine bedrohte Region ist, lag der Fokus von Anfang an auch darauf, wie Krieg sich auf Frauen auswirkt. Die Aktivist*innen schufen einen sicheren Ort, an dem sich die Frauen untereinander über ihre Gewalterfahrungen austauschen konnten.
Der Konflikt beeinflusste zunehmend die Arbeit
Nach dem Krieg in 2020 arbeiteten die Aktivist*innen zunehmend mit geflüchteten Frauen. Zum einen waren da Frauen, die innerhalb Bergkarabachs geflohen waren, um den Kämpfen zu entkommen. Zum anderen flohen während des 2020er Krieges bereits viele nach Armenien. Auch einige der Aktivist*innen waren schon nach Jerewan umgezogen und halfen dort den Frauen aus Bergkarabach, sich in der neuen Umgebung zurecht zu finden. 2023 mussten die Aktivist*innen endgültig ihre Räume in Shushi aufgeben. Gemeinsam mit 100.000 anderen Menschen, nahezu allen armenischen Bewohner*innen Bergkarabachs, flohen sie nach Jerewan. Seitdem arbeiten die Aktivist*innen von Women’s Center. Shushi daran, ihre Organisation in der neuen Umgebung wieder aufzubauen.
Denn auch in Jerewan ist ihre Arbeit für die Frauen aus Bergkarabach weiterhin notwendig. Die Menschen aus Bergkarabach sprechen einen eigenen Dialekt, der stark vom Armenisch der Hauptstadt und anderen Regionen abweicht. Die Region Bergkarabach ist zudem deutlich ärmer als das restliche Armenien. Es ist noch sehr ländlich geprägt. Viel funktioniert noch über Mund zu Mund-Propaganda. Die Menschen kennen sich, alles ist übersichtlicher. Für sie alle ist die Umsiedlung nach Armenien eine große Umstellung, zumal der größte Teil der geflüchteten Menschen in und um Jerewan, der größten Metropole des Landes, untergebracht worden ist.
Ankommen in der Großstadt
Die Umstellung vom Leben in Bergkarabach zum Leben in Jerewan birgt viele Herausforderungen. „Wir sind von einer sehr kleinen in eine viel größere Stadt umgezogen. Wir sind immer noch dabei, uns an den Lebensstil in der Großstadt zu gewöhnen. Die Wege sind längere, es gibt viel mehr Verkehr. Es braucht einfach schon mal viel mehr Zeit, um von A nach B zu kommen,“ berichten uns die Aktivist*innen vom Women’s Center. Shushi. Natürlich gebe es auch zahlreiche Unterstützungsangebote, teilweise von der armenischen Regierung, teilweise von der Zivilgesellschaft organisiert. Doch oftmals wissen die Menschen nicht, wo und wie die Hilfe zu beantragen ist. Die Aktivist*innen recherchieren und lernen selbst immer noch dazu. „Wir lernen und lehren das quasi zeitgleich,“ erklärt Gayane Hambardzumyan, die Geschäftsführerin vom Women’s Center. Shushi.
Frauen aus Bergkarabach haben mit Vorurteilen zu kämpfen
Viele Armenier*innen aus Bergkarabach haben auch mit Vorurteilen und Diskriminierungen zu kämpfen. An ihrem Dialekt sind sie leicht zu erkennen. Sie werden anders angesehen und behandelt. Ihre Herkunft erschwert ihnen die Eingliederung in die armenische Gesellschaft. Zumal die enorme Zahl an Geflüchteten aus Bergkarabach auch eine große Herausforderung für das kleine Armenien darstellt. Jerewan ist zum Beispiel seit September 2023 um ca. 10% an Einwohner*innen gewachsen. Das belastet die Stadt und die Hilfsstrukturen natürlich sehr. „Mit filias Förderung konnten wir für uns, unsere Mitarbeiter*innen, aber auch für die Frauen, die zu uns kommen, psychologische Unterstützung anbieten. Wir sehen bereits die positiven Effekte: Die Arbeit geht wieder schneller und leichter von der Hand. Die Gefahr von Burnout ist in unserem Team deutlich gelindert worden“, berichtet Gayane Hambardzumyan.
Kochtöpfe und neue Computer
Women’s Center. Shushi kümmert sich auch um die ganz praktischen Dinge. Da andere Organisationen bereits Kleidung und Hygieneprodukte an die neuangekommenen Frauen aus Bergkarabach verteilten, entschied das Women’s Center. Shushi, Töpfe und andere Küchenutensilien anzuschaffen und an ihre Klient*innen zu verteilen. Liza Matevosyan, Programm-Managerin, erzählt, warum sie sich für diese Dinge entschieden haben: „Eigene Töpfe und Löffel zu haben, das ist wichtig für die Frauen, die zu uns kommen. Das gibt ihnen ein bisschen mehr das Gefühl, hier angekommen zu sein.“
So wie die Frauen ihren gesamten Hausstand zurücklassen mussten, hat auch die Organisation nichts von ihrer Ausstattung auf die Flucht mitnehmen können. Einen Teil der filia-Förderung haben die Aktivist*innen daher in neue Hardware für ihr Büro gesteckt. Außerdem haben sie Englischunterricht für sich bezahlt. Der Umzug in die Großstadt Jerewan hat den Aktivist*innen gezeigt, dass sie sich besser vernetzen müssen. Und das nicht nur in Armenien, sondern auch international.
➤ Lesen Sie hier unserer Blog-Artikel „Zur Lage in Bergkarabach und Armenien“!
➤ Hier können Sie ein Gespräch mit Gohar Shahnazaryan vom Women’s Fund Armenia anhören, in dem sie auf die aktuelle Lage und die Historie des Konflikts um Bergkarabach eingeht. (Link)