“Wie ich im Kaffeesatz lese…”

Eine der bemerkenswertesten Erfahrungen unserer Reise nach Armenien war der Besuch dessen, was einmal das feministische Seminarhaus der armenischen Frauenstiftung werden soll – oder wie unsere armenische Kolleginnen es nennen: „our feminist healing space“ (engl.: unseren feministischen Raum der Heilung). Dieser Raum der Heilung ist eine Villa aus den 70er Jahren in einer Kleinstadt vor den Toren Jerewans. Bemerkenswert an diesem Ausflug war nicht nur dieses unerwartete kleine Paradies, versteckt hinter hohen Mauern, oder die detailreichen Visionen unserer Gastgeberinnen, wie sie die Räume in Orte des Austausches, Kräfteschöpfens und Heilens verwandeln wollten, sondern vor allem das Ritual des Lesens im Kaffeesatz, in das wir an diesem Nachmittag eingeführt wurden.

Was hierzulande eher als Jahrmarktstrick belächelt wird, hat in den Ländern des Kaukasus und Nahen Ostens jahrhundertlange Tradition. Eine Tradition der Frauen. Eine Tradition, die ihnen den Raum eröffnete, ins Sprechen, in den Austausch zu kommen. Sich mitzuteilen. Auch über die schmerzhaften Anteile des Lebens. Über jenes, auf dem sonst das Schweigen lastet.

Lara Aharonian, die uns an jenem sonnigen Oktobernachmittag in die Kunst des Lesens im Kaffeesatz einführte, hat sie von ihrer Großmutter gelernt. An dieser Stelle wollen wir Lara selbst zu Wort kommen lassen. Im Folgenden lesen Sie eine Übersetzung von Laras Text „Feministisches Kaffeesatz-Lesen – Workshop über Heilung und kollektive Care-Arbeit“:

Die schwierigste und zugleich bereicherndste Reise, die ich in meinem Leben erlebt habe, war die ständige Reise durch mehrere Identitäten.
Diese Identitäten und Sprachen waren oft miteinander verbunden, aufeinander bezogen, transformierend und entfremdend zugleich.
Und all diese Identitäten, Sprachen fanden immer ihren Platz in meinem Kaffeesatz und trösteten mich oft über die Sehnsucht nach Orten hinweg, die ich zu früh verlassen hatte.
Im Kaffeesatz las ich jahrhundertealte Weisheiten, Beschwörungsformeln, die von Generationen von Frauen in meiner Familie vererbt wurden; ihr Flüstern reiste durch das Echo Anatoliens und über das Mittelmeer bis in die Berge Armeniens. Sobald ich die Kaffeetasse in den Händen hielt, öffneten sich die Geschichten durch die geheimnisvollen Bilder und wurden an diejenigen weitergegeben, die auf Enthüllungen warteten. Nach jeder Lektüre kehrt mein Geist mühsam in die Realität zurück. Sobald ich innehalte und über die Kaffeetasse hinausschaue, kehrt eine losgelöste, schwere Welt zu mir zurück, als ob ich jahrelang entführt worden wäre und nun den Weg zurück auf die Erde und in die Realität finden würde.
Die Gesänge, die schon vor Jahrhunderten erklangen, werden noch jahrelang in meinen Ohren widerhallen. Die Hände meiner Großmutter waren ein Segen, sie hielt die Keofte mit solcher Leidenschaft in der Hand, während sie in meine Kaffeetasse schaute und mit ruhiger Stimme „lav e yavrum, lav lur ga“ („alles ist in Ordnung, meine Liebe, ich sehe positive Nachrichten in deinem Kaffeesatz“) sagte. Diese magischen Worte musste ich bei jedem wichtigen Ereignis in meinem Leben hören: bei Tests, Schulprüfungen, Arztbesuchen, in der Liebe, auf Reisen, bei der Geburt eines Kindes. Ich musste ihr die Kaffeetasse reichen und darauf warten, dass die tröstlichsten drei Worte meines Lebens aus dem Mund der Weisheit mit dem Duft von gut geröstetem Arabica kamen: „lav e yavrum“.
Jahre später, als ich mich auf meine feministische Reise begab und gemeinsam daran arbeitete, sichere Räume für feministische Aktivist*innen zu schaffen, verwandelte sich das Ritual des Lesens aus dem Kaffeesatz in meinen Händen in ein Werkzeug, um andere zu stärken und zu heilen. Die Frauen jeden Alters und jeder Herkunft sahen mich erwartungsvoll an und warteten darauf, dass ich ihnen die eine Wahrheit sagte, die sie tief in ihrem Inneren bereits kannten. Ich konnte sie nicht täuschen, denn meine Worte und die Bilder in ihren Tassen waren all die Liebe und Fürsorge, die ich mit ihrer Seele teilen wollte; eine Umarmung, die ihr Herz berührte, in ihren Schoß eindrang, ihr Selbst nährte, ihre Wunden heilte und ihnen Hoffnung gab, dass es besser werden würde.
Und ich würde tief in den Kaffeeflecken am Boden der Tasse versinken. Und meine Seele würde durch die Jahrhunderte reisen. Und die Bilder werden sich formen. Die Frauen in meiner Familie werden ihre Schwingungen an die um mich versammelten Frauen senden. Und der Gesang wird anfangen zu schwingen. Erst dann werden die Worte aus meinem Mund kommen, wie ein sanftes Flüstern, das den Kreis der Frauen um mich herum beruhigt und umarmt.