Zentrum und Ränder feministischer Bewegungen

Von Oktober bis Dezember 2021 führten der Women’s Fund Armenia, der Women’s Fund Georgia, der Ukrainian Women’s Fund und FemFund Poland eine kleine Umfrage unter ihren Partner*innen durch. Im Fokus der Fragen standen Zentrum und Ränder feministischer Bewegungen. Mit Hilfe der Umfrage ermittelten die Frauenstiftungen auch, mit welchen Hindernissen die Bewegungen konfrontiert sind. Außerdem gaben die Teilnehmer*innen an, was ihrer Meinung nach die Identifikation mit den Bewegungen stärken würde und welche weiteren Ressourcen es brauche, um feministische Bewegungen zu vergößern und zu empowern. Im nachfolgenden Text haben wir die Antworten der Partner*innen aus den vier Ländern für Sie zusammengefasst. Diese Umfrage ist Teil des Projekts „Feminist Landscapes: Zivilgesellschaftlicher Dialog mit allen Stimmen“, das vom Auswärtigen Amt gefördert und von filia.die frauenstiftung koordiniert wird.

Zentrum und Ränder feministischer Bewegungen – wer steht wo?

Nach Ansicht der Teilnehmer*innen an der Umfrage befinden sich die feministischen Bewegungen in den vier Ländern noch in der Entwicklung. Die Partner*innen des Women’s Fund Armenia (WFA) sind zum Beispiel der Meinung, dass es keine einheitliche Bewegung gibt. Es gebe lediglich ausgewählte Organisationen, Gruppen und einzelne Aktivistinnen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzen. Die Partnerinnen des Women’s Fund in Georgia (WFG) gaben an, dass sie derzeit keine nennenswerten Schritte zur Stärkung der Frauenbewegung erkennen können. Darüber hinaus wird die georgische Bewegung von den Problemen heterosexueller Frauen dominiert, während LBTIQ*-Stimmen sehr selten zu hören sind. Die Frauenbewegungen sind eher elitär. Die Interessen von Frauen, die sich von der weißen, heterosexuellen Mehrheit unterscheiden, kommen kaum zum Ausdruck. Dabei gaben z. B. die Partner*innen der georgischen Frauenstiftung an, wie wichtig es wäre, die feministische Agenda inklusiv zu gestalten. Die Interessen aller in Georgien lebenden Frauen sollten berücksichtigt werden.

Bestehende georgische Organisationen bieten vor allem Dienstleistungen (z. B. Beratung, rechtliche Unterstützung) an und leisten Lobbyarbeit. Sie seien nicht in der Lage, Frauen insgesamt auf die Straße zu bringen. Dasselbe Problem sprachen auch von Aktivist*innen aus Armenien an. Auch dort werden etliche stark marginalisierte Gruppen, z. B. Trans-Frauen, nicht in die Bewegungen miteinbezogen und mobilisiert.

Doch es bewegt sich was…

Die Partner*innen der georgischen Frauenstiftung sehen jedoch einige positive Veränderungen. Die feministische Bewegung in Georgien werde inklusiver. Zeigte die Bewegung beispielsweise über Jahre hinweg wenig Interesse und Sensibilität für die Bedürfnisse von Frauen und Mädchen mit Behinderungen, so hat sich diese Situation glücklicherweise geändert. Heute werden Gruppen von Frauen und Mädchen mit Behinderungen in öffentliche und politische Veranstaltungen sowie in Kultur- und Bildungsaktivitäten einbezogen. Insgesamt ist die georgische Frauenbewegung nach Meinung der Befragten wichtig, um auf die Bedürfnisse der Frauen in Georgien zu reagieren. Die Arbeit der Aktivist*innen ist für eine verbesserte Rechtsstellung der in Georgien lebenden Frauen entscheidend.

Gleichzeitig erwähnen die Aktivist*innen, dass die COVID-19-Pandemie, der Krieg im Südkaukasus und die Angriffe von ultrarechten und genderfeindlichen Gruppen die Menschenrechtslage in allen Teilnehmerländern beeinträchtigt haben. Geschlechterfragen wurden einerseits zum Gegenstand von bösartigen Spekulationen und Manipulationen. Andererseits wurde ihnen in der Öffentlichkeit noch weniger Bedeutung als bisher beigemessen.

Braucht es überhaupt die EINE Bewegung?

Unter den polnischen Teilnehmer*innenn an der Umfrage waren die Meinungen über die Einheit der feministischen Bewegung geteilt. Die meisten von ihnen waren skeptisch gegenüber der Idee, eine große, kohärente feministische Bewegung zu schaffen. Einige waren der Ansicht, eine „einheitliche feministische Bewegung“ sei einfach nicht notwendig. Zusammenarbeit könne trotzdem stattfinden, da wo sie wirklich gebraucht werde. Einige Teilnehmer*innen meinten, der Feminismus sei zu gespalten und seine verschiedenen Strömungen seien nicht miteinander zu vereinbaren. Der Aufbau einer großen, gemeinsamen Bewegung könne daher zu Ausgrenzung, Macht- und Repräsentationskonflikten führen. Einige Teilnehmer*innen wiesen darauf hin, dass die Vernetzung eher eine Alternative zum Aufbau einer großen Bewegung sein könnte. Dennoch gab es eine Minderheit von Teilnehmer*innen, die darauf bestand, dass eine gemeinsame feministische Bewegung das Ziel sei. Nur eine solche Bewegung könne zur Lösung systemischer Probleme beitragen.

Insgesamt betonten die polnischen Teilnehmer*innen der Umfrage, dass intersektionaler Feminismus eine nicht verhandelbare und grundlegende Bedingung für feministische Aktivitäten heutzutage ist. Im Kontext der Intersektionalität sprachen die Teilnehmer*innen von der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen verschiedenen Unterdrückungssystemen. Intersektionalität sei eine notwendige Handlungsstrategie, um diese Systeme abzuschaffen. Gleichzeitig räumen die Partner*innen von FemFund ein, dass intersektionaler Feminismus nicht einfach sei.
In der Ukraine nimmt die Mehrheit der Initiativen oder Organisationen, Feminismus bzw. die ukrainische Frauenbewegung als etwas Neues wahr. Dieses Neue entsteht vor allem durch den Dialog innerhalb und unter den Organisationen, Initiativen und Communities und ist mit einer großen Motivation zu handeln verbunden.

Welche Barrieren behindern marginalisierte Gruppen und Aktivist*innen?

Die Haupthindernisse, mit denen sich Organisationen und Aktivist*innen in den Bewegungen konfrontiert sehen, sind individuell und strukturell verschieden. Einige Organisationen fühlen sich oft von anderen feministischen Gruppen ausgeschlossen, weil sie nach Ansicht der radikaleren oder liberaleren Gruppen nicht radikal oder liberal genug sind. Sie werden einfach nicht als Mitglieder der Bewegung wahrgenommen.

Da die Anti-Gender-Bewegungen überall auf der Welt zugenommen haben, sind die öffentlichen Diskurse von extrem hasserfüllter, misogyner und homophober Rhetorik durchsetzt. Dies hat nicht nur zur Folge, dass verschiedene (rechte) Gruppen oder Einzelpersonen feministische Unterstützer*innen ins Visier nehmen. Es kann auch andere Menschen davon abhalten, sich mit Feminismus zu assoziieren. Oder diese Menschen haben schlicht Angst davor haben, sich als Feminist*innen zu bezeichnen, da sie Anfeindung und Diskriminierung befürchten.

Ein weiteres Hindernis ist, dass es in der feministischen Bewegung eine allgemeine Vorstellung davon gibt, wie ein*e Feminist*in sein sollte. LBTQ*-Personen, vor allem diejenigen, die neu zu den Bewegungen hinzustoßen, können vom Feminismus weggetrieben werden. Sie befürchten, für die Art, wie sie ihr Geschlecht leben, kritisiert zu werden. Der Mangel an Handlungsfähigkeit bei queeren Frauen sowie die ethnische Identität und die Sprache wurden ebenfalls als Hindernisse genannt.

Insgesamt bleiben die am stärksten marginalisierten Gruppen aufgrund der in der Gesellschaft und sogar innerhalb der Gruppen selbst vorherrschenden Stereotypen isoliert. Die feministischen Bewegungen scheinen zersplittert und auf Unterschiede konzentriert zu sein. Neue Initiativen, die oft stärker motiviert sind, ihre Erfahrungen offen zu teilen und mit anderen zusammenzuarbeiten, haben weniger Zugang zu Ressourcen für ihren Aufbau, da sie mit erfahreneren und größeren Organisationen konkurrieren müssen.

Was wird gebraucht?

Die meisten Teilnehmer*innen an der Umfrage gaben an, dass Folgendes benötigt wird:

  • Finanzierungsmöglichkeiten,
  • Sichtbarkeit für Gruppen, deren Probleme oft an den Rand gedrängt werden,
  • Unterstützung für Gruppen, die „neu im Feminismus“ sind,
  • Nicht-finanzielle Unterstützung, z. B. durch den Austausch von Erfahrung, inhaltliches Wissen,
  • Raum und Zeit zum Vernetzen,
  • Stärkung von Mitarbeiter*innen, Freiwilligen und Aktivist*innen,
  • Schaffung von Plattformen.

Den eigenen Blickwinkel erweitern

Es besteht die Tendenz, nur die Probleme wahrzunehmen, die als die eigenen oder die Probleme der eigenen Gruppe identifiziert werden. So sind z. B. Sexarbeiter*innen möglicherweise nicht mit den Problemen von Menschen mit Behinderungen vertraut. Das Verständnis für die Probleme anderer Gruppen ist ein notwendiger Schritt, um Stereotypen zu bekämpfen und gegen die (Selbst-)Stigmatisierung vorzugehen, die zu den wichtigsten Hindernissen der Bewegungen gehören.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Aktivist*innen und Organisationen, die an der Umfrage teilgenommen haben, sich verpflichtet fühlen, ihre Bemühungen stärker zu bündeln und sich gegenseitig zu stärken. Die Arbeit auf lokaler und nationaler Ebene ist für sie alle gleichermaßen wichtig. Zu den notwendigen Schritten zur Stärkung ihrer Bemühungen gehört die Erweiterung des Blickwinkel aller Beteiligten, um Stereotype und Stigmatisierung – sei es die externe als auch die verinnerlichte – anzusprechen und zu bekämpfen. Nur so können vor allem die Menschen an den Rändern der feministischen Bewegungen ihre Anliegen und Bedürfnisse ins Zentrum rücken.

Und so berichten unsere Partner*innen über das Projekt:

„Four Grants and one survey…“ – Women’s Fund in Georgia
„Feminist Landscapes: A joint regional cooperation project“ – Women’s Fund Armenia
„Civil Dialogue with all Voices“ – Ukrainian Women’s Fund