„Was uns ausmacht, ist das Miteinander“
In diesem Interview spricht Vani Veyel ausführlich zur Arbeit des Mädchenbeirats – und gibt dabei auch sehr persönliche Einblicke in das Leben als genderqueere Person in einer heteronormativen Gesellschaft. Teile des Interviews wurden in den Stuttgarter Nachrichten veröffentlicht, den ungekürzten Text lesen Sie hier.
filia: Vani, kannst du anfangs ein bisschen von dir erzählen?
Vani: Ich bin 20 Jahre alt, komme aus Mannheim und studiere im zweiten Semester Soziale Arbeit in Wiesbaden. Seit meiner frühen Jugendzeit (13/14 Jahre) habe ich Aufgaben für die Gemeinschaft übernommen. Angefangen als klassensprechende Person oder schulsprechende Person bis hin zum Engagement als Ministrant*in in der Kirche. Früh begann ich auch ehrenamtlich in Einrichtungen der offenen Kinder und Jugendarbeit zu arbeiten. 2018 begann ich mit regelmäßigen Öffnungen in einem Jugendtreff und als Begleitperson mehrfachbehinderter Menschen bei Freizeitangeboten. Im September 2019 begann ich dann meinen 18-monatigen Bundesfreiwilligendienst in einem Jugendhaus in Mannheim. Zuvor erwarb ich an einem Mannheimer Gymnasium, mit dem Schwerpunkt Pädagogik und Psychologie, meine Fachhochschulreife.
Wie wurdest du Mitglied im Mädchenbeirat (MB) von filia?
Im Herbst 2017 sprach mich eine Sozialarbeiterin aus einem Jugendhaus, das ich in dieser Zeit regelmäßig besuchte, an und erzählte mir von einer E-Mail von filia mit der Ausschreibung nach neuen Mitgliedern für den MB. Ich habe mich ein wenig eingelesen was filia und vor allem der MB so machen und bewarb mich dann mit dem online Formular beim MB. Ein für mich zusätzlicher Anreiz war die Tatsache, dass das Ganze in Hamburg stattfindet und ich dort für ein paar Tage sein darf, denn Hamburg ist neben meiner Heimat Mannheim für mich die schönste Stadt. In der Bewerbung für den MB musste ich verschiedene Fragen beantworten, z.B. was ich verändern würde, wenn ich Kanzler*in in Deutschland wäre. Ganz genau kann ich nicht mehr sagen, was ich darauf geantwortet hatte, aber es ging in die Richtung, Ungleichheiten generell in der Welt zu beseitigen und vor allem eine Gleichberechtigung zwischen Männern* und Frauen* zu schaffen.
Durch meine Sexualität, die nicht hetero ist, und mein queer sein bin ich schon immer und immer noch angeeckt. Ich passe nicht in eine heteronormative Gesellschaft. Ich bin als Frau geboren, aber habe mich noch nie wirklich wohl mit meinem biologischen Geschlecht gefühlt und beschreibe mich heute selbst als genderqueer. Mit ca. 14 Jahren outete ich mich als lesbisch, was im Großen und Ganzen nicht sonderlich viel Aufsehen in meinem näheren Umfeld erzeugte, doch bekam ich von Außenstehenden die ein oder anderen unangenehmen Bemerkungen entgegengeschissen, wenn sie erfuhren, dass ich auf Frauen* stehe. Als ich meine erste feste Freundin hatte, mussten wir immer wieder mit den unangenehmen Blicken von anderen Menschen kämpfen.
„Durch meine Sexualität, die nicht hetero ist, und mein queer sein bin ich schon immer und immer noch angeeckt.“
Durch mein sehr maskulines Erscheinungsbild glaube ich, hielten sich diese Erlebnisse noch in Grenzen. Dafür erfahre ich bei jedem Gang auf eine öffentliche Toilette Widerstand. Ich werde immer gefragt, ob ich denn wüsste, dass es die Damentoilette ist und werde direkt angebrüllt, dass ich sofort rausgehen solle oder werde gar nicht erst auf die Toilette gelassen, z.B. vom Reinigungspersonal. Das ist ein Teil meines Alltags als nicht heterosexuelle, genderqueere Person.
Welche spezielle Perspektive willst du in den Mädchenbeirat einbringen?
Durch meine eigenen Erfahrungen als queere biologisch weibliche Person habe ich Erfahrungen gemacht, die andere Menschen mit einem ähnlichen Background leider auch machen müssen und die habe ich stets im Fokus und setzte mich dafür ein, dass diese Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen und Anfeindungen irgendwann ein Ende nehmen und es bis dahin gute Angebote für Menschen gibt, die diese Erfahrungen machen müssen. Zusätzlich habe ich viel praktische Erfahrung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und kenne die Strukturen von städtischen Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit.
Kannst du ein bisschen erzählen, wer die anderen im Mädchenbeirat sind?
Wir sine eine wild gemischte Gruppe aus 11 Personen im Alter von 14-26 Jahren, die zwischen einem und fünf Jahren schon Teil des MBs sind. Darunter sind Personen, die noch zur Schule gehen, andere studieren Jura oder häufig vertreten Psychologie. Nicht nur, dass wir beruflich in unterschiedliche Richtungen gehen, so leben wir auch alle in anderen Orten Deutschlands und auch Großbritanniens. Ich komme aus der südlichsten Stadt und ich glaube, Kiel ist der nördlichste Heimatsort. So bringt jede Person auch andere Perspektiven mit, denn wer in der Hauptstadt aufgewachsen ist, macht ganz andere Erfahrungen als eine Person, die aus einer eher kleineren Stadt wie Fürth stammt. So auch nochmal ein ganz anderer Blick von einer Person, die ursprünglich aus Hamburg kommt, aber in London studiert. Nicht nur unsere Wohnorte unterscheiden sich, sondern auch die Religion, Wurzeln und soziale und gesellschaftliche Herkunft.
Was uns ausmacht, ist das Miteinander. In keinem anderen Gremium, Verein oder Gruppe habe ich mich so willkommen und wohl gefühlt, wie beim MB. Wir alle sind sensibel im Umgang miteinander, da jede Person von uns andere schwierige Erfahrungen im Leben sammeln musste und nicht jede Person dies nachempfinden kann und trotzdem unterstützen wir uns alle gegenseitig. Wir haben einen extrem starken Zusammenhalt, der über den MB hinausgeht. Es haben sich Freundschaften entwickelt, die sonst nie entstandenen wären, da sich diese Menschen ohne den Kontext filia nie begegnet wären. Wenn ich anderen vom Bereit erzähle, dann beschreibe ich unsere gemeinsamen Wochenenden wie ein Leben in einer Blase, in der es friedlich, respektvoll und liebevoll von statten geht – ganz anders als der eigentliche Alltag von vielen von uns. Ein sichererer Raum als viele andere Räume, die wir nutzen. Und für mich auch ein Raum des Lernens, abgesehen von der Arbeit des Beirats habe ich schon so viel von den anderen Beirät*innen gelernt und auch vieles Neues über mich gelernt, ein viel größeres Bewusstsein für meine Privilegien bekommen und ein besseres Verständnis über Diversitäten in jeglichen Richtungen.
„Wir haben einen extrem starken Zusammenhalt, der über den MB hinausgeht.“
Wie läuft die Arbeit dafür praktisch ab?
Die Vereine bewerben sich schriftlich bei filia mit ihren Projekten und zunächst bekommen wir als Beirat von jedem Projekt die eigene Kurzbeschreibung und anhand derer treffen wir mit einem Punktesystem eine Vorauswahl. So hat beispielsweise jede Person 15 Punkte zum Vergeben zur Verfügung und kann davon bis zu 3 Punkte pro Projekt vergeben. Nachdem dann die Vorauswahl getroffen wurde, bekommen wir alle die gesamten Anträge zur Einsicht. Diese lesen wir dann im Vorfeld des eigentlichen Treffens alle durch, machen uns Notizen, recherchieren die Vereine etc.. Dann gibt es im Frühjahr jedes Jahres das Beiratswochenende, an dem wir von Freitag bis Sonntag gemeinsam über die Projekte diskutieren. Der Samstag ist der eigentlich intensivste Tag, denn wir sprechen jeden Antrag durch und da kann es mal zu ganz unterschiedlichen Meinung zu einzelnen Projekten kommen oder wir stellen fest, dass Vereine nicht den Vorstellungen entsprechen, die wir fördern möchten. Und am Ende dieses intensiven, langen und spannenden Tages kommt es zum Ranking: mit demselben Punktesystem wie bei der Vorauswahl werden dann verdeckt die Stimmen für die Projekte vergeben und es entsteht eine Rankingliste. Und je nachdem, wie viele Gelder zur Verfügung stehen, für die Projekte für Mädchen* und junge Frauen* in Deutschland, werden dann die Projekte von Platz Eins bis XY gefördert.
Wie kann man sich für eine Projektförderung bewerben – oder schlagen die Beiratsmitglieder auch selbst welche vor?
Jeder in Deutschland eingetragene Verein, kann sich bei filia mit einem Projekt für Mädchen* und junge Frauen* bewerben. Tatsächlich kam es auch schon vor, dass Beirät*innen Teil eines Projektes waren, das sich in diesem Jahr beworben hat oder sie durch die Teilnahme eines von filia geförderten Projekts zum Beirat gekommen sind. Wenn es aber eine Befangenheit gibt, also dass ein Beiratsmitglied Teil eines Projektes ist, das sich aktuell beworben hat, so hat die Person kein Stimmrecht.
Worauf achten ihr bei der Auswahl der Projekte, die gefördert werden?
Im Fokus steht die Mehrfachbenachteiligung der Adressat*innen und dass die Idee von den betroffenen Personen selbst kam und am besten auch der Antrag von den Personen selbst mitgeschrieben oder selbst geschrieben wurde. Ebenfalls ist es wichtig, dass es einen klaren roten Faden in dem Projekt und auch im Finanzplan gibt und alles so transparent wie nur möglich für uns ist.
„Im Fokus steht die Mehrfachbenachteiligung der Adressat*innen“
Auch der Verein, der den Antrag stellt, sollte den Werten und Normen, die filia vertritt, übereinstimmen. So achten wir beispielsweise darauf, wie divers ein Team aufgestellt ist oder wo der Verein sonst Gelder herbekommt. Wenn es möglich ist, versuchen wir auch zentrierter Projekte in ländlichen Gegenden zu fördern, denn oftmals kommen die Anträge aus großen Städten wie Leipzig, Berlin oder Hamburg und wir finden es wichtig, dass wir deutschlandweit Projekte fördern und auch in Städten, die grundsätzlich schon weniger Angebote für Mädchen* und junge Frauen* haben.
Besucht ihr die Projekte auch vor Ort?
Jedes Jahr besuchen wir mindestens ein von filia gefördertes Projekt und wenn es uns möglich ist und es in einer Stadt gleich mehrere Projekte gibt, versuchen wir diese Besuche zusammenzulegen. So gelang es uns an einem Wochenende im Jahr 2018, gleich drei Projekte in Leipzig zu besuchen. In diesem Jahr fand sogar ein online Projektbesuch statt, mit gleichzeitigem Austausch von drei verschiedenen geförderten Projekten.
Kannst du zwei Projekte beispielhaft nennen, die dir besonders am Herzen liegen?
Ein Projekt aus München, das wir auch 2019 besucht hatten, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Eine Gruppe von lesbischen afrikanischen Frauen hat ein eigenes Theaterstück geschrieben und gespielt, in dem sie ihre traumatischen und schmerzhaften Erfahrungen widerspiegelten. Sie führten uns eine Szene aus dem Stück vor und bis heute habe ich Gänsehaut, wenn ich daran denke.
Ein weiteres Projekt, das ich besonders gut fand, war aus dem Jahr 2018 und fand in Leipzig statt. Dort wurde ein DJ*innen Workshop für Mädchen* und junge Frauen* angeboten, von einer bekannten DJane aus der Leipziger Clubszene und eine Frauen*party veranstaltet, auf der Inhalte von zuvor stattgefundenen Workshops umgesetzt werden konnten. Zum Beispiel gab es einen Selbstverteidigungskurs und auf der Party fanden dann Rollenspiele statt, wo die Frauen* ihr neu Erlerntes anwenden konnten.
Was ziehst du für dich aus der Arbeit für filia?
Dass meine Stimme gehört wird und ich mit meiner Arbeit das Leben für Mädchen* und junge Frauen* zumindest ein klein wenig besser machen kann. Und mein eigener Lernprozess immer weiter vorangetrieben wird. So bekomme ich immer mehr Wissen über die Strukturen in Stiftungen und verschiedenen Gremien und kann Teil davon sein, wenn auf dieser Welt etwas für Mädchen* und Frauen* getan wird.
Was unterscheidet filia für dich von anderen Stiftungen?
Da ich selbst nur filia als Stiftung als aktives Mitglied kenne, kann ich das nur schwer beantworten. Aber was filia schon einzigartig macht, ist der partizipative Ansatz durch den Mädchenbeirat als Teil des Mädchen EmpowermentProgramms sowie die Förderschwerpunkte der Stiftung, die nicht nur ihren Fokus auf Deutschland haben, sondern weltweit Frauen* dabei fördert, ein besseres und vor allem gleichberechtigtes Leben führen zu können.
Vielen Dank, Vani, für das Gespräch und deine Offenheit!
Eine Weile haben wir das Sternchen hinter Mädchen* und Frauen* verwendet, weil wir damit zeigen wollten, dass wir alle Menschen meinen, die sich weiblich positionieren. Wir haben aber wahrgenommen, dass diese Schreibweise als diskriminierend empfunden wird, weil sie impliziert, dass es ‚richtige‘ Frauen gibt und Frauen, die mit Sternchen markiert werden. Daher haben wir uns entschieden, das Sternchen in diesem Fall nicht mehr zu verwenden.
Wir benutzen weiterhin das Sternchen, wenn wir über Personengruppen sprechen (z.B. Beirät*innen, Kolleg*innen), um nicht-binäre Identitäten sichtbar zu machen und auf die Konstruiertheit von Geschlecht hinzuweisen. In Texten, die wir von unseren Projektpartner*innen erhalten, wird die Schreibweise Mädchen* bzw. Frau* von uns nicht verändert.