Proteste in Serbien: Studierende kämpfen für einen demokratischen Neustart

Seit Wochen gibt es Proteste in Serbien. Vor allem junge Menschen, Studierende, gehen auf die Straße. In den deutschen Medien wird davon nur am Rand berichtet. Wir haben unsere Kolleg*innen von der serbischen Frauenstiftung Reconstruction Women’s Fund deshalb gebeten, uns die Situation aus ihrer Sicht zu schildern. Galina Maksimović hat unsere Fragen beantwortet.

 

Galina, was hat es mit den Protesten in Serbien auf sich? Wie sind sie entstanden?

Am 1. November 2024 stürzte das frisch renovierte Vordach des Bahnhofsgebäudes in Novi Sad ein, wobei 15 Menschen ums Leben kamen. Was folgte, war eine Mischung aus Trauer, Wut und Protesten, die eigentlich friedlich und zum Gedenken gedacht waren. Allerdings wurden die Proteste bald gewalttätig, ausgelöst vor allem von bezahlten und von der Polizei geschützten Hooligans. Die Demonstrierenden warfen nur rote Farbe auf Regierungsgebäude und die Räumlichkeiten der Regierungspartei. Die Polizei verhaftete in diesen ersten Tagen jedoch viele Aktivist*innen und Bürger*innen. Das löste wiederum neue Proteste für deren Freilassung aus. Diese Verhaftungen waren unfair. Sie richteten sich sich gegen friedliche Demonstrierende und wurden wie „Entführungen“ durchgeführt. Bei einigen der Festgenommenen wusste tagelang niemand, wo sie waren.

Die Proteste in Serbien sind mittlerweile ein tägliches Ereignis

Wie entwickelten sich die Proteste dann weiter?

In der Zwischenzeit wurde das Gedenken an die Verstorbenen zu einem täglichen Ereignis. Jeden Tag um 11:52 Uhr, dem Zeitpunkt des Einsturzes, blockieren Menschen für fünfzehn Minuten die Straßen. Diese Proteste in Serbien erreichen mittlerweile jede Region des Landes. Bei einigen dieser friedlichen Blockaden kam es leider zu weiteren Zwischenfällen. Zum Beispiel raste eine Person absichtlich in eine Mahnwache für die Verstorbenen. Mehrere Menschen wurden dabei verletzt.

Viele Studierende bestreiken während der Proteste ihre Universitäten. Wie kommt das?

Ein einschneidender Vorfall passierte vor der Universität der Künste, wo mehrere Studierende tätlich angriffen wurden. Unter den Angreifern befanden sich auch Lokalpolitiker. Nach diesem Vorfall riefen die Studierenden dieser Fakultät einen Vollstreik aus und begannen, ihr Gebäude zu blockieren, um eine strafrechtliche Verfolgung der Angreifer zu fordern – was bis heute nicht geschehen ist.

Bald schlossen sich weitere Fakultäten an, so dass derzeit 62 von 80 Fakultäten blockiert sind. Die Studierenden nutzen Plenarsitzungen und direkte Demokratie zur Entscheidungsfindung. Ich hatte Gelegenheit, mir die Situation in einer der Fakultäten anzusehen, und ich habe wahrgenommen, dass die Studierenden sehr verantwortungsbewusst und mit festen Prinzipien für Sicherheit und Ordnung sorgen. Ihre friedlichen Proteste nehmen viele Formen an. Tägliche Blockaden bis hin zu riesigen Protesten mit über 100.000 Menschen. Wanderungen von Stadt zu Stadt zu Fuß. Die Sichtbarmachung des Kampfes, der im Regime und im öffentlichen Fernsehen nicht gezeigt wird. Mega-Marathons zwischen den Städten. Es gab Blockaden von Brücken, Plätzen und strategischen Straßen, die zeitweise bis zu 28 Stunden dauerten.

Was fordern die Protestierenden?

In jeder Stadt und in jedem Dorf, in das die Studierenden kommen, werden sie als Befreier angesehen. Sie haben eine Hoffnung geweckt, die es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Ihre vier Forderungen spiegeln ein gemeinsames Interesse der Mehrheit der Menschen in Serbien wider. Erstens: Die Veröffentlichung ALLER Dokumente zum Wiederaufbau des Bahnhofs. Zweitens: Die strafrechtliche Verfolgung von Personen, die Studierende und Professor*innen angegriffen haben – und ihre Entlassung aus politischen Funktionen. Drittens: Die Rücknahme von Strafanzeigen gegen friedliche Demonstrierende. Und viertens: Eine Erhöhung des Budgets für die Universitäten. Dies sind die Forderungen, die derzeit Menschen aller Altersgruppen und aus dem gesamten politischen Spektrum vereinen.

Mit wem haben sich die Studierenden zusammengeschlossen?

Die Fakultäten und Studierenden haben unterschiedliche Ansichten und politische Meinungen, aber sie sind sich in diesen vier grundlegenden Forderungen einig. Gleichzeitig sind sie entschlossen, sich von jeder politischen Partei, aber auch von NGOs und anderen Organisationen zu distanzieren. Wie ihr wisst, werden NGOs oft als „ausländische Agenten“ angesehen. Die Studierenden versuchen, unabhängig zu bleiben. Dennoch knüpfen sie Kontakte zu verschiedenen progressiven Bewegungen, vor allem durch die selbst organisierten Vorlesungen und runden Tische, die sie während der Blockaden an ihren Fakultäten abhalten. Das ist der springende Punkt an der ganzen Sache: Obwohl sie keinen regulären Unterricht haben, lernen sie tatsächlich etwas über Themen, die wichtig sind, die sie aber normalerweise nicht an ihren Fakultäten hören würden.

Der Kampf vervielfacht sich

Der Kampf vervielfacht sich – Studierende schließen sich mit Gewerkschaften und Expert*innen-Netzwerken zusammen, die ebenfalls streiken oder andere Formen der Blockade durchführen. Schulangestellte, Anwält*innen, Landarbeiter*innen, Kulturschaffende.

Wie feministisch sind die Proteste in Serbien?

Was die feministische Komponente betrifft, so ist sie in den letzten Monaten nur schemenhaft zu erkennen. Feministische Themen stehen im Mittelpunkt von Diskussionen an einigen Fakultäten, es werden auch Filme mit feministischen oder queeren Themen gezeigt. Ebenso wie andere für den Feminismus wichtige Themen – Klimagerechtigkeit, soziale und Klassenfragen. Leider sind einige Fakultäten traditionell konservativ, so dass einige Gastredner*innen und die Themen, über die sie sprechen, eher rechtslastig sind. Da es sich um eine echte Massenbewegung handelt, ist Pluralismus unvermeidlich. Das Tolle ist, dass viele der Studierenden, die sich aktiv am Protest beteiligen, dieselben jungen Leute sind, die sich sonst feministisch und friedensfördernd engagieren. Wusstet ihr, dass die Studierendenbewegung für den Friedensnobelpreis nominiert wurde?!

Wie wirkt sich die Situation auf eure Arbeit als Frauenstiftung aus?

Was unsere Arbeit anbelangt, so ist sie bisher nicht wesentlich beeinträchtigt. Wir sind nur durch Staus betroffen oder dadurch, dass wir uns mehr Zeit für Proteste nehmen. Außerdem erhalten wir Anrufe von Aktivist*innen, die uns in bestimmten Situationen beraten wollen.

Aber: Andere Kolleg*innen von größeren Organisationen haben gerade ein paar Wochen der Hölle hinter sich. Bei ihnen hat die Polizei Razzien in ihren Büros durchgeführt. Angeblich auf der Suche nach Beweisen für den Missbrauch von USAID-Geldern, die sie erhalten haben. In Wirklichkeit ist dies nur eine Taktik der Angstmacherei. Sie versuchen, den Studierenden und allen, die protestieren, Angst einzujagen: Durch Erpressungen, Verhaftungen, Verleumdung von Personen, die Verängstigung ihrer Familienangehörigen und Bespitzelung, insbesondere von Aktivist*innen. Einige Aktivist*innen aus der Bewegung wurden ausspioniert. Ihre Gespräche wurden von der Boulevardpresse genutzt, Studierende zu diskreditieren. Der Druck auf Aktivist*innen ist hoch, aber die Angst ist verschwunden. Unsere Rolle als Frauenstiftung besteht weiterhin darin, den Kernbedürfnissen der feministischen Bewegung zu dienen und eine verlässliche Partnerin zu sein. Viele Aktivist*innen sind im Burn-out, weil sie ihren regulären Aktivismus betreiben und dabei die Studierenden unterstützen, ohne viel Zeit zum Verschnaufen zu haben

Was werden die Proteste in Serbien bewirken?

Jetzt erleben wir gerade eine schöne, ergreifende, friedliche, weit verbreitete Solidarität, die uns alle bewegt. Die Spannungen, die durch den Druck der Regierung entstehen, werden jedoch immer größer. Für Mitte März ist ein großer Protest angekündigt, und es gibt Befürchtungen, dass es dieses Mal durch Polizei- und Spezialeinheiten zu massiver Gewalt kommt. Die Regierung hat so viele Dinge versucht und ist damit gescheitert. Also ist die Gewalt das Einzige, was geblieben ist.

Ein zweite Chance für die Demokratie

Aber die Studierenden haben eine gesunde Basis geschaffen, die zur Solidarität aufruft und die sehr gespaltene Gesellschaft eint. Diese Basis sollte sowohl ein Versprechen als auch eine Warnung sein, dass jeder, der danach an die Macht kommt, von den Bürger*innen, die endlich ihre kollektive Macht verstanden haben, genau beobachtet werden wird. Es wird nicht mehr so einfach sein, das Land und seine Bürger*innen auszurauben, sie zu erpressen oder Wahlfälschungen zu organisieren. Es könnte ein großartiger Neustart und eine zweite Chance für die Demokratie sein.

Vielen Dank für deine Zeit und deine Einschätzung!

Fotoausschnitt: The Associated Press 2025